Gar nicht so leicht: Singen mit Mimik und Emotion

Singen ist nicht nur eine technische Herausforderung, sondern auch eine Kunstform, die Emotionen und Ausdruckskraft verlangt. Gerade im Chorgesang – wo oft mehrere Stimmen harmonisch miteinander verbunden werden – ist es besonders wichtig, dass die Sängerinnen und Sänger ihre Emotionen nicht nur mit der Stimme, sondern auch mit ihrer Mimik und Gestik transportieren. Doch warum fällt es vielen so schwer, diese Ausdruckskraft in ihre Darbietung zu integrieren? Hier sind drei zentrale Gründe, warum es oft eine Herausforderung ist, mit Mimik und Emotion zu singen.

1. Alte Gewohnheiten stehen einem im Weg

Für viele Sängerinnen und Sänger ist das Singen in erster Linie eine körperliche und technische Anstrengung. Häufig ist der Körper bereits durch jahrelange Gewohnheiten geprägt – etwa das unbewusste Hochziehen der Augenbrauen oder das Einfrieren der Gesichtszüge, um sich stärker auf den Klang, den Rhythmus oder die Atmung zu konzentrieren. Diese „automatischen“ Reaktionen sind oft das Ergebnis von jahrelangem Üben und der Fokussierung auf die Stimme und Technik. Doch während die Stimme „funktioniert“, können sich solche alten Gewohnheiten auf der Mimik abbilden und die emotionale Wirkung des Gesangs einschränken. Die Herausforderung besteht darin, sich bewusst von diesen Automatismen zu befreien und die Mimik als Ausdruck des emotionalen Erlebens im Moment zu nutzen.

2. Wie ein Schauspieler muss auch ein Sänger immer wieder einen neuen Zugang zu Texten und emotionalen Inhalten finden

Mimik und Emotionen entstehen nicht einfach durch einstudierte Gesten oder vorgegebene Ausdrücke. Sie müssen im Moment entstehen, als Reaktion auf die Musik und den Text. Genauso wie ein Schauspieler in jeder Aufführung einen neuen Zugang zu seiner Rolle finden muss, muss auch ein Sänger immer wieder einen neuen Zugang zu den Texten und emotionalen Inhalten seiner Lieder finden. Ein Sänger kann sich nicht einfach ein „Mimik-Repertoire“ anlegen und dieses während des gesamten Stücks abspulen. Um authentisch zu wirken, muss er sich auf den Text, die Musik und die eigene Gefühlswelt einlassen – und diese in der Mimik widerspiegeln. Dies bedeutet, dass ein Sänger stets in der Lage sein muss, seine eigenen Emotionen in der Darbietung zuzulassen und sie nicht durch technisches Üben zu blockieren.

3. Freie Mimik erfordert technische Sicherheit

Die Fähigkeit, mit Mimik und Emotion zu singen, hängt eng mit der technischen Sicherheit der Darbietung zusammen. Wenn ein Sänger in Unsicherheit über die Melodie, den Text oder die Rhythmik ist, wird es ihm schwerfallen, sich auf den emotionalen Ausdruck einzulassen. Um frei in der mimischen Darstellung zu sein, müssen Töne, Texte, Rhythmen und musikalische Gestaltung sicher beherrscht werden. Nur wenn ein Sänger auf allen Ebenen „freies Spiel“ hat – das heißt, die technische Seite des Gesangs perfekt beherrscht – kann er sich voll und ganz der emotionalen Ausdruckskraft hingeben. Ein sicherer Umgang mit der Technik gibt dem Sänger die Freiheit, die Mimik als ergänzendes Ausdrucksinstrument zu nutzen, ohne sich ständig Gedanken über die richtigen Töne oder den richtigen Rhythmus machen zu müssen.

Fazit

Das Singen mit Mimik und Emotion ist eine komplexe Herausforderung, die sowohl technisches Können als auch die Fähigkeit zur emotionalen Kommunikation verlangt. Die Verlockung, sich auf gewohnte, technische Automatismen zu stützen, ist groß, doch um die volle Ausdruckskraft entfalten zu können, ist es wichtig, sich immer wieder auf die Musik und den Text einzulassen und den emotionalen Zugang zu finden. Erst wenn der Sänger die technische Seite seines Gesangs sicher beherrscht, kann er sich auf die Mimik konzentrieren und die Emotionen frei und authentisch in seine Darbietung einfließen lassen. Nur dann wird der Gesang zu einem lebendigen Erlebnis – für den Sänger und für das Publikum.

 

Wie wir bei Chorliebe das Thema angehen

In unserer Lerngemeinschaft gehen wir das Thema der Mimik und Emotion im Gesang ganz bewusst und schrittweise an, um eine natürliche und authentische Ausdruckskraft zu entwickeln. Dabei kombinieren wir verschiedene Ansätze, die den Sängerinnen und Sängern helfen, sowohl technisch sicher zu werden als auch emotional auf die Musik und den Text einzugehen.

1. Sicherheit gewinnen durch Flexibilität

Ein wichtiger Bestandteil unserer Übungsmethoden ist die Förderung von Flexibilität und der Aufbau von Sicherheit. Wir ermutigen die Sängerinnen und Sänger, immer mal wieder den Platz zu wechseln – sei es durch das Singen an unterschiedlichen Positionen im Raum, das Einnehmen neuer Perspektiven oder das Singen im Kreis. Diese Bewegungen beim Singen helfen, den Blick für die Musik zu erweitern und die eigene Stimme aus verschiedenen Blickwinkeln zu erleben. Der Kontakt zu verschiedenen Singnachbarn und das Erleben der Stimme aus anderen Positionen unterstützt dabei, die eigene Technik zu festigen, sodass die Sänger sich auf ihre Mimik und Emotionen konzentrieren können, ohne von technischen Aspekten abgelenkt zu werden.

2. Der emotionale Zugang zum Text

Ein weiterer wichtiger Schritt ist, sich intensiv mit dem Text und den Inhalten des Stücks auseinanderzusetzen. Wer spricht im Lied? An wen richtet sich die Botschaft? Welche Gefühle sind mit den Worten und der Musik verbunden? Indem wir uns diese Fragen stellen, schaffen wir ein tieferes Verständnis für den emotionalen Kontext des Liedes. Nur wenn der Sänger oder die Sängerin wirklich weiß, was der „Sprecher“ des Stücks fühlt und vermitteln möchte, kann er oder sie diese Emotionen authentisch in der Mimik ausdrücken. Die Verbindung zwischen den Gefühlen im Text und der körperlichen Ausdruckskraft wird so stärker und lebendiger.

3. Mimische Grundemotionen

Ein weiteres hilfreiches Mittel, um die eigene Mimik gezielt in die Darbietung einzubringen, ist das Training mit den sogenannten „mimischen Grundemotionen“. Hierbei lernen die Sängerinnen und Sänger, bestimmte Gesichtsausdrücke gezielt mit den entsprechenden Emotionen zu verbinden. So helfen uns einfache mimische Übungen, wie das Hochziehen der Augenbrauen in der Mitte für Trauer oder das Anheben der Augenbrauen für Überraschung, dabei, schnell in bestimmte Gefühlszustände einzutauchen. Auch das Zusammenziehen der Augen für Freude oder das Senken der Augenlider für Scham oder Nachdenklichkeit sind Mimikübungen, die es uns ermöglichen, emotionale Reaktionen direkt in unserem Gesicht widerzuspiegeln. Diese mimischen Grundemotionen sind nicht nur für den Sänger selbst hilfreich, sondern wirken auch über die sogenannten Spiegelneuronen im Publikum: Der Zuschauer kann sich durch diese klaren mimischen Signale schneller in die Emotionen des Stücks einfühlen und die Darbietung intensiver erleben.

Durch diese gezielten Übungen und die bewusste Auseinandersetzung mit der Mimik schaffen wir in unserer Gemeinschaft eine Atmosphäre, in der sich jede und jeder sängerisch und emotional weiterentwickeln kann – ohne den Druck, „perfekt“ sein zu müssen, sondern in einer Umgebung, in der Flexibilität, Experimentierfreude und emotionale Wahrhaftigkeit gefördert werden.